Christian Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten

Christian Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Köln 2008, Kiepenheuer & Witsch, ISBN 3-462-04041-3, Hardcover mit billiger Leimbindung, Lesebändchen und Schutzumschlag 12,0 cm x 19,5 cm, 149 Seiten, 16,95 Euro

Christian Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten

Lenin ist damals nicht in den plombierten Zug gestiegen, sondern hat die kommunistische Revolution in der Schweiz durchgeführt. Seitdem ist ununterbrochen Krieg, fast 100 Jahre. Der namenlos bleibende Ich-Erzähler ist Parteikommissär im Sowjet des gerade von den Deutschen zurückeroberten Neu-Bern. Aufgrund verschiedener Hinweise beschließt er, den Arzt und Oberst Brazhinsky, einen polnischen Juden, der während der faschistischen deutsch-englischen Besatzung in Neu-Bern geblieben war, festzunehmen, doch der hat sich bereits in die Hochalpen abgesetzt. Dort liegt auch das Réduit, die in das Alpenmassiv hineingebaute Alpenfestung der Schweizerischen Sowjetrepublik.

Über die historischen Hintergründe, also die ursächlichen Ereignisse dieser alternativen Gegenwart (ein Jahr wird nicht genannt, aber vorhandene Hinweise passen in etwa zu 2008) erfährt der Leser leider kaum etwas. Sibirien wird durch die Tunguska-Explosion viral verseucht und Lenin ist während des ersten Weltkriegs (der im Buch natürlich nicht so heißt) nicht auf das deutsche Angebot, per verblombtem Eisenbahnwaggon nach Rußland zurückzukehren, eingegangen, sondern hat die kommunistische Revolution in der Schweiz begonnen. Seitdem ist Krieg. Für mich macht das langsame Verstehen der Ursachen für die alternative Realität sowie die daraus hervorgegangenen Folgen einen großen Teil des Reizes eines Parallelweltromans aus. Davon habe ich hier leider nichts. Die Vergangenheit bleibt im Dunkeln, dabei hätte mich brennend interessiert, wie in der Vorstellung der Autors, der ja Schweizer ist, eine erfolgreiche kommunistische Revolution, angeführt von Exilrussen, in der Schweiz des frühen 20. Jahrhunderts hätte stattfinden können. Zu dieser Zeit wurden solche Revolutionen in vielen Ländern versucht, aber nur die in Rußland, dem Land mit den stärksten sozialen und ständischen Gegensätzen, hatte Erfolg. Ich war sehr gespannt auf das postulierte Zustandekommen, doch leider hat sich der Autor dazu überhaupt nicht geäußert.

Auch die gegenwärtigen Verhältnisse bleiben nebulös, schon fast widersprüchlich. In Ostafrika gibt es ein großes von der SSR beherrschtes Gebiet, wohl im Bereich der heutigen Staaten Tansania und Kenia, in dem die Eingeborenen im schweizerisch-kommunistischen Sinne erzogen und für den Krieg in Afrika und Europa rekrutiert werden. Es gibt keine Hinweise darauf, wie es der über keinen Seezugang verfügenden Schweiz gelungen ist, in Afrika Fuß zu fassen und sich dort trotz des Weltkriegs zu halten. Deutschland hatte seine Kolonien (außer dem heutigen Mosambik) kurz nach Kriegsbeginn verloren. Die Lage in Europa sieht so aus, daß sich Deutschland und England als faschistische Regimes (aber das kann Propaganda sein) gegen die SSR verbündet haben, koreanische Truppen stehen bei Minsk, und in Rumänien dringt eine hindustanische Armee vor. Oberitalien steht unter afrikanischer Verwaltung, was auch immer das bedeuten mag, es gibt ein großaustralisches Reich, und die Amexikaner haben die Grenzen geschlossen, um sich in einem Bügerkrieg selbst zu zerfleischen, seltsamerweise nicht, ohne vorher einen Malariaimpfstoff über ganz Afrika abgeworfen zu haben. Insgesamt bietet sich ein unklares, ja geradezu konfuses Bild der gegenwärtigen Verhältnisse und wie es zu diesen kam.

Störend ist die Rechtschreibsituation - der Druckerei scheinen die ß ausgegangen zu sein. Auch nach der neuen Rechtschreibung gibt es dieses deutsche Sonderzeichen noch. In der Schweiz mag diese Verunstaltung der deutschen Rechtschreibung üblich sein, aber einem deutschen Verlag mit Sitz in Köln hätte es gut zu Gesicht gestanden, die Rechtschreibfehler ihres Autoren zu korrigieren. Putzigerweise hat der Schriftsetzer aber die nötigen Sonderzeichen der polnischen Sprache parat und später noch ein paar chinesische Schriftzeichen gefunden. Eine weitere typographische Absonderlichkeit sind die vielen unnötigen Leerzeilen im Text, die es so aussehen lassen, als bestünde das Buch aus sehe vielen sehr kurzen Absätzen, was aber nicht der Fall ist. Diese Leerzeilen tauchen überall auf, sogar mitten in Dialogen. Das macht auf mich den Eindruck, als solle dadurch die Seitenzahl erhöht werden, wozu auch die sehr breiten unbedruckten Seitenränder passen würden.

Die Protagonisten werden nicht charakterisiert, sonern bleiben zweidimensional. Man kann sie noch nicht einmal als Klischees bezeichnen, so farblos bleiben sie. Das mag an der Kürze des Textes liegen, der durch die oben erwähnten typographischen Tricks von einer etwa 100seitigen Novelle in einen Kurzroman von 149 Seiten verwandelt wird. Von den 149 Seiten meiner Zählung (die mit der letzten Seite des eigentlichen Textes endet) enthalten nur 139 tatsächlich den Roman, der Rest sind Impressum, leere Seiten und Werbung, die das Buch insgesamt auf die vom Verlag angegebenen 160 Seiten aufblähen. Ich halte es aber für Absicht des Autors, denn der schreibt viel zu gut, als daß ich ihm solch sträfliche Vernachlässigung seiner Figuren zutraue, und es gibt viele Beispiele deutlich kürzerer Texte, bei denen sowohl Hintergrund als auch Protagonisten erheblich besser ausgebaut sind als im vorliegenden Werk. Ich gehe vielmehr davon aus, daß die Personen bewußt blaß und undeutlich bleiben, so passen sie gut in den ebenso blassen und undeutlichen Hintergrund, und sie sollen dadurch wohl auch zeigen, daß der langandauernde Krieg die Menschen abstumpft, ihre Menschlichkeit zum Verblassen bringt. Was freilich nichts daran ändert, daß diese blassen Persönlichkeiten es nicht besonders interessant machen, das Buch zu lesen.

Das Buch bleibt in allem sehr vage, es ist mir nicht gelungen, eine Aussage (außer vielleicht »Krieg führt zur Devolution«) herauszulesen. Warum hat der Autor dann diesen Text geschrieben? Ich wage mal zu behaupten, daß es Christian Kracht sicher *nicht* um »World-Building« geht. Wäre das der Fall, hätte er versagt - was von seiner Welt sichtbar wird, ist Stückwerk, dessen Einzelteile entweder nicht recht zueinander passen oder bei denen wichtige Verbindungsteile ausgelassen wurden. Kracht macht es dem Leser schwer zu verstehen, was er eigentlih sagen will. Das zumindest ist sicherlich beabsichtigt. Die einfachste Erklärung ist, daß er nichts zu sagen hat. ;) Vielleicht ist der Sinn aber auch, daß Kracht jetzt gemütlich zu Hause die diversen Rezensionen liest und sich ob der verzweifelten Deutungsversuche kaputtlacht. Diese Erklärung gefällt mir persönlich am besten.

Es gibt auch etwas positives über das Buch zu berichten: Christian Kracht verwendet eine klare, gut lesbare, stellenweise schaurig-schön poetische Sprache, um seine Geschichte in eindringlichen Worten zu erzählen. Die Erzählweise selbst ist eher bedächtig, es wird nur eine geringe Spannung aufgebaut. Es waren hauptsächlich die gute Sprache und meine Hoffnung, genaueres über diese Parallelwelt und ihre Hintergründe zu erfahren, die mich haben weiterlesen lassen. Leider ohne zu finden, wonach ich gesucht habe, das Ende des Buches steht dem Rest nicht an Unklarheit nach. Insgesamt hatte ich den Eindruck, daß der Autor nicht so recht weiß, was er mit diesem Roman eigentlich aussagen will. »Krieg stumpft ab«? Das ist eine altbekannte Erkenntnis, die der Autor durch die stoischen Reaktionen auf diverse Tote gut umsetzt. »Krieg macht blöd«? Im Buch ist hin und wieder die Rede davon, daß das Lesen verlernt wird, die Menschen sich kulturell zurückentwickeln (z. B. die künstlerische Darstellung der schweizer Geschichte), aber auch hier bleibt der Autor Hintergrund und genauere Ausführung schuldig. Ich halte das auch für eine falsche Schlußfolgerung, Krieg hat im Gegenteil immer wieder den Erfindungsreichtum der Menschen stimuliert, üblicherweise mit ziemlich tödlichen Ideen.

Fazit: Das Buch zeichnet sich durch eine sehr gute Sprache aus. Leider ist das auch das einzig positive, das ich über diesen Roman zu sagen habe. Es entwickelt sich keine nennenswerte Spannung, der Handlungshintergrund bleibt undurchsichtig und der Hauptprotagonist scheint selbst nicht recht zu wissen, warum er eigentlich tut, was er tut. Leider nicht zu empfehlen.


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Erstellt am Do, den 18.12.2008 von Martin Stricker.
Zuletzt geändert am Mio, den 28.01.2009 um 23:45.