Heidrun Jänchen: Simon Goldsteins Geburtstagsparty

Heidrun Jänchen: Simon Goldsteins Geburtstagsparty. Nittendorf 2008, Wurdack Verlag, ISBN 3-938065-33-8, Paperback 12,9 cm x 19,9 cm, 227 Seiten, 12,95 Euro

Heidrun Jänchen: Simon Goldsteins Geburtstagsparty

Die EU (Europäische Union) wurden in die IEU (Inner European Union) und die NEU (Akronym nicht erklärt) gespalten, wobei Britannien (ohne Nordirland) wieder unabhängig ist. Die Grenze zwischen den beiden Blöcken scheint in etwa dem alten Eisernen Vorhang zu entsprechen. Die IEU ist nur noch auf dem Papier demokratisch, in Wirklichkeit jedoch ein Polizeistaat, in dem unliebsame Wahrheiten von staatlichen Ämtern wie dem Institut für Medienforschung systematisch aus dem Internet entfernt und durch genehmere Tarngeschichten ersetzt werden. Frank Böttger ist dort Chef der Programmierer und hat unter anderem den Hoax über die Ermordung des IEU-Präsidenten Giraux in Brüssel erfunden, der von der tatsächlich vertuschten Ermordung in Marseille erfolgreich abgelenkt hat. Fiona O'Nolan aus dem einst nordirischen Portadown ist Journalistin beim ENS (European News Service), der wichtigsten Nachrichtenagentur in ganz Europa, und versucht das Rätsel um den Giraux-Mord zu lösen. Éloïse St. Clair war am raffiniert durchgeführten Giraux-Mord beteiligt und unterstützt nun chinesische Terroristen, damit die Auslagerung der Produktion dorthin unrentabel wird und sie wieder eine berufliche Perspektive in Frankreich bekommt. John Dove ist ein US-amerikanischer Geheimdienst-Terrorist, der Katalonien und Südfrankreich destabilisieren soll. Frank Böttger muß feststellen, daß seine Untermieterin ihn auszuspionieren versucht (die IEU ist zu einem Polizeistaat verkommen), und mietet sich bei Dr. Nathalie Auer ein, die aufgrund einer anderen seiner Vertuschungsaktionen bei einem Hilfseinsatz in Afrika an Lungenkrebs erkrankt ist. Er weiß nicht, daß sie die Tochter seines Chefs ist. Irgendwo in Afrika flieht Jeremiah aus einem Dorf radikal-religiöser Feministinnen, um der Kastration zu entgehen...

Im Buch geht es vor allem um einen Mordanschlag auf Giraux, den Präsidenten der IEU. Zunächst scheint ein Attentat in Brüssel verübt worden zu sein - das glauben alle, und jeder sucht nach dem Beweis. Nach einer Weile stellt sich heraus, daß das Attentat *tatsächlich* stattgefunden hat - aber in Marseille, wo niemand nach Indizien sucht. Eine geniale Vertuschungsaktion, die nur deshalb aufzufliegen droht, weil der Erfinder von seinem Vertuschungs- und Beeinflussungsjob die Schnauze voll hat. Die Handlung kommt nur langsam in Fahrt, da die Autorin sich viel Zeit nimmt, die Situation und vor allem die Charaktere einzuführen. Trotzdem bleibt die politische Gesamtlage, speziell die Gründe für das Zerbrechen der EU, unklar, und auch die Protagonisten werden nicht tiefgründig charakterisiert. Heidrun Jänchen erzählt gut, und ihre Sprache ist klar und eindrücklich, allerdings gelingt es ihr nicht, in ihrem ersten Roman die gleiche erzählerische Dichte zu erzeugen, die ihre letzten Kurzgeschichten auszeichnete. Positiv hervorzuheben ist, daß auch ihr erster Roman innovative Ideen aufweist, wie man das von ihren Kurzgeschichten gewohnt ist. Leider ist auch die Spannung eher schwach, was vermutlich auch daran liegt, daß den Protagonisten kaum Steine in den Weg gelegt werden - das hätte auch ein ehtes Katz- und Maus-Spiel sein können. Stattdessen können die Verschwörer beinahe unbehelligt planen, es gibt nur ein paar kleinere Zwischenfälle, von denen keine das Projekt in Gefahr bringt.

Die Handlung führt nach und nach die verschiedenen Protagonisten zusammen, nicht immer sonderlich glaubwürdig. Da wird der Zufall doch reichlich strapaziert, besonders bei den Zusammentreffen von Fiona mit John, Fiona und John mit Éloïse sowie Frank mit Nathalie. Ich hätte mir hier geschicktere, zwangsläufigere Lösungen gewünscht, wie es insbesondere bei den Zusammentreffen von Frank mit Fiona und Jeremiah mit (das wäre ein Spoiler) der Fall ist. Letzteres finde ich besonders gut gelungen, da es bis fast zum Ende des Buches dauert, bis klar wird, wie Jeremiah in die Geschichte paßt, und mit seiner Hilfe gleichzeitig massive und eindringliche Kritik an der gleichzeitig aus Ignoranz und Ausbeutung basierenden Haltung unserer Industriegesellschaft den armen Ländern gegenüber geübt wird, die den Kontinent Afrika besonders hart getroffen hat.

Überhaupt ist »Simon Goldsteins Geburtstagsparty« ein politisches Buch, genauer gesagt eine Gesellschaftskritik, die der Verdeutlichung halber in einer nahen Zukunft spielt, in der sich heute bereits sichtbare Trends zu ihrem logischen Ende weiterentwickelt haben. Das Ergebnis ist nicht schön: Ein Polizei- und Überwachungsstaat, der massive Zensur und Tatsachenfälschung betreibt und nur noch auf dem Papier demokratisch ist. Schon heute deutet sich diese Entwicklung an, beispielsweise durch die Diskussion um Online-Durchsuchungen per Bundestrojaner, biometrische Daten im Reisepaß (früher wurde nur von Schwerverbrechern die Fingerabdrücke genommen) oder der Einsatz von Nacktscannern für Flugreisende. Hier wird die freiheitlich-demokratische Grundordnung im Namen der Erhöhung der Sicherheit gezielt außer Kraft gesetzt. Heidrun Jänchen beschränkt sich nicht nur darauf, die Konsequenzen dieser Handlungen unserer Politiker aufzuzeigen, wie dies etliche SF-Geschichten der letzten Jahre tun, nein, sie geht einen Schritt weiter und läßt ihre Protagonisten versuchen, etwas dagen zu *tun*. Auch die Art dieser Gegenmaßnahmen ist ungewöhnlich, denn es geht nicht etwas um eine Revolution oder einen Staatsstreich, nicht einmal um ein Attentat. Hier kommt schließlich Simon Goldstein ins Spiel, mehr möchte ich nicht verraten - lest das Buch!

Eigentlich ist das Buch nicht abgeschlossen, denn die Geschichte von Simon Goldsteins Geburtstagsparty hat kaum angefangen - das Ande des Romans ist eigentlich der Beginn des zweiten Bandes, was zum fast völligen Wegfall des Spannungsbogens führt. Hier wäre meiner Meinung nach ein Schnitt zum nächsten Band sinnvoller gewesen. Ich hoffe sowieso auf einen zweiten Band, der die Geschichte zum wirklichen Ende erzählt.

Fazit: Ein gut geschriebener Roman, der aber nur langsam in Fahrt kommt und bei dem die Zusammenführung der einzelnen Handlungssträge und Protagonisten nicht immer glaubwürdig erfolgt. Dafür wird die aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklung kritisch hinterfragt und eine innovative Gegenstrategie entwickelt. Insgesamt ein beachticher Erstlingsroman mit einer wichtigen Botschaft. Durchaus empfehlenswert.


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Erstellt am So, den 02.11.2008 von Martin Stricker.
Zuletzt geändert am So, den 02.11.2008 um 17:42.