Harald Giersche [Hrsg.]: Prototypen und andere Unwägbarkeiten

Harald Giersche [Hrsg.]: Prototypen und andere Unwägbarkeiten. Mülheim an der Ruhr 18. September 2012, Begedia Verlag, ISBN-10 3-9813946-0-7, Paperback 11,9 cm x 19,0 cm, 207 Seiten, 8,90 EUR

Harald Giersche [Hrsg.]: Prototypen und andere Unwägbarkeiten

enthält (*: keine SF)


* Harald Giersche: Pro-Wort

Ein knappes, halbseitiges Vorwort zum Thema der Anthologie vom Herausgeber.


Christian Endres: Das erste Orakel

Der namenlose Protagonist sucht seit Jahren nach dem ersten Orakel, bei dessen Erschaffung dem Schöpfer des Universums ein Fehler unterlaufen sein soll, da es ebenso weise wie wahnsinnig sei.

Schöne Pointenstory, die mittels diverser sprachlicher Übertreibungen die salbungsvollen Geschichten der Suche nach Sinn und Schöpfer des Universums geschickt satirisch auf die Schippe nimmt.


Dirk Ganser: Das Leuchten in der Ferne

Adam ist ein Wächter, der mit seiner Wolfshündin Maschka die Verbotene Stadt bewacht und an von den Alten festgelegten Orten Messungen vornimmt, denn das pulsierende Leuchten im Zentrum der Stadt stellt nach wie vor eine große Gefahr dar. Seine Kollegin Natascha aus dem Nachbardorf, in die er verliebt ist, ist nicht im Wächterhäuschen, also macht er sich auf die Suche.

Eine gut und einfühlsam erzählte Geschichte, die deutlich macht, daß die Mächtigen bereit sind, über Leichen zu gehen, wenn es dem Erhalt ihrer Macht dient.


Sven Klöpping: Der Entwicklungsplanet

Der namenlose Ich-Erzähler ist ein Kampfandroide, der auf einem Planeten irgendwo eine Fabrik vor älteren Modellen schützen soll, eine Art Training für den Kampfeinsatz an der Echtfront. Er sucht nach dem geheimen Raumhafen, um nach SecondEarth zu fliehen, dem Hauptplaneten der Menschen, da er nicht gegen Aliens kämpfend sterben, sondern frei sein will.

Gut und einfühlsam geschriebene Pointenstory mit abruptem, aber passendem Ende. Leider gibt es einige Schnitzer im Ausdruck, die vom Lektorat hätten beseitigt worden sein sollen (möglich, daß es bewußte Stilmittel sind, aber dafür gibt es keine weiteren Hinweise), darunter übelstes Denglisch wie Feuerwall (statt Firewall oder Schutzprogramm), ein »übergeordneter Logarithmus« (bei dem wohl ein Algorithmus gemeint ist) sowie eine ziemlich exzessive Kursivschreibung, die bei der verwendeten Schriftart dazu führt, daß es keinen Leerraum zum nächsten nichtkursiven Wort gibt. Diese Dinge haben meine Freude an der eigentlich guten Geschichte deutlich getrübt. Aber, wie hat es Frederic Brake so schön formuliert: »Typisch Klöpping, möchte man sagen. Wortkonstrukte und hektische Satzfolgen werden einem um die Augen gehauen.« Diese Art der Schreibe mag man oder eben nicht - mein Geschmack ist es nicht wirklich.


Miriam Pharo: Der Junge

Die namenlose Ich-Erzählerin hat eine Katastrophe überlebt, die die Menschheit praktisch ausgerottet hat, anscheinend eine Krankheit. Sie ist auf der Suche nach weiteren Überlebenden und findet einen fünfzehnjährigen Jungen, dem sie das gebrochene Bein schient. Doch in der Nacht macht sich Eifersucht in ihr breit...

Schön und sprachgewandt erzählte Geschichte, die mit einer gänzlich unerwarteten Pointe aufwartet. Wieso der Mond summt, wird allerdings nicht erklärt - da ist die Poetik wohl mit der Autorin durchgegangen. ;-)


Lucas Edel: Der Tag der Zikade

Joe Finrich ist einer der letzten Menschen im Sonnensystem, der mit einem der letzten 3 Gleiter zu einem der drei neubesiedelten Planeten fliegen soll, da die Erde aufgrund von Umweltverschmutzung und Klimawandel evakuiert wird.

Die Geschichte ist gut erzählt, der Schlußsatz ist allerdings seltsam (will heißen: Sein Sinn erschießt sich mir nicht).


Frank Lauenroth: Goldene Zeiten

Der namenlose Ich-Erzähler ist Auftragskiller und kauft von Zach McLasky ein Gewehr, das in die Zukunft schießen kann. Sein nächster Auftrag ist ein gutbewachter US-Senator, so daß ihm die neue Waffe sehr gelegen kommt. Doch das FBI hat Zach festgenommen...

Schöne Pointenstory, die die Zeitreisethematik raffiniert nutzt, wenn auch etwas unlogisch: Der Schuß müßte sich meiner Meinung nach sofort lösen, nicht erst zu dem Zeitpunkt, an dem die Kugel ins Ziel trifft.


Thorsten Küper: Handlungsreisende

Ich-Erzähler Rebane lebt mit Francine und dem beinamputierten Tiki in einem kleinen Raumschiff. Die Arbeits- und Lebensbedingungen in den Schiffen und Raumhabitaten der Corporation sind katastrophal, daher haben sich viele von ihr losgesagt, darunter auch Rebane und seine Freunde. Durch die hemmungslose Gier der Großkonzerne ist die Erde nahezu unbewohnbar geworden, die Konzernbosse lassen sich daher im Kälteschlaf in Kolonien auf Mars und Europa evakuieren. Rebane und seine Freunde machen Jagd auf diese Migratoren, denn sie bieten Rohstoffe und Ersatzteile für Maschinen und Menschen. Diesmal haben sie einen Auftrag von Kogai, dem berühmten Hacker-Künstler-Terroristen.

Thorsten Küper legt eine weitere hervorragend erzählte Geschichte vor, die über den Namen Kogai mit »Warten auf Kogai« verbindet, einer seiner bislang besten Geschichten, und die Involvierung Kogais wird erst wirklich in ihrer ganzen Vielschichtigkeit verständlich, wenn man durch Lesen der Bezugsgeschichte Kogais Hintergrund kennt. Der Autor entwirft hier auf wenigen Seiten geschickt eine Zukunft, die als logische Fortschreibung der absehbaren Entwicklung der westlichen profitorientierten Gesellschaft erkennbar ist. Hierbei spart er nicht an Kritik an den Mächtigen und Reichen und zeigt die Langzeitfolgen unseres Raubbaus an Natur, Rohstoffen und Menschen deutlich auf. Trotzdem wirkt die Erzählung an keiner Stelle belehrend, eine beeindruckende schriftstellerische Leistung. In letzter Zeit wird in der SF und verwandten Genres vieles mit der Bezeichnung »Punk« belegt - Cyberpunk, Steampunk und obskurere Begriffe. Doch wenig davon verdient diese Bezeichnung wirklich - Punk ist schmutzig, fies, subversiv, anklagend und nicht weichgespült oder romantisierend wie viel zu viele mit diesem Etikett versehene Werke. Hier jedoch liegt echter, vielleicht ein bischen zu braver, Punk vor, Spacepunk, Socialpunk oder Ökopunk wären geeignete Namen, wobei letzteres nicht wirklich auf diese Geschichte zutrifft. Eine herausragende Erzählung von einem der besten zeitgenössischen deutschsprachigen Autoren.


Heidrun Jänchen: Die Isolierbox

Ben befindet sich nach einem Einsatz in einem radioaktiv verstrahlen brennenden Biolabor in einem Isolationsbehälter, bis die Radioaktivität in ihm abgeklungen und sichergestellt ist, daß seine genetische Immunität gegen Radioaktivität, die ihm auch eine violette Haut beschert hat, wirklich funktioniert. Nach dem Trauma des Einsatzes wird er psychologisch betreut, doch die Erinnerung kommt nur stückweise zurück...

Erneut eine Geschichte um Menschenrechte und den Wert eines Menschenlebens - das scheint unterschwelliges Thema dieser Anthologie zu sein. Heidrun Jänchen legt eine packend geschriebene Erzählung mit glaubwürdig charakterisiertem Hauptcharakter vor, leider endet sie an der Stelle, an der es richtig interessant wird, wie schon einige andere Werke dieser Autorin.


Heinz Löbel: Zeiten

Harvey, Hauptideenlieferant für die Zeitmachine »Lizel«, wurde plötzlich und unbegründet gekündigt. Nun dringt er in Labor V ein, weil er unbedingt der erste sein will, der sie testet...

Spannend und logisch, dadurch aber etwas vorhersehbar erzählte Geschichte, deren Ende leider nicht nur unter Zeitparadoxa, sondern auch unter Unlogik leidet.


Frederic Brake: Pax vobiscum

Der namenlose, vermutlich nichtmenschliche Ich-Erzähler ist ein junger fanatischer Rekrut, der mit einer Beinverletzung ins Lazarett eingeliefert wird. Dort trifft er auf einen desillusionierten Protho, einen Kampfcyborg, der von der eigenen Artillerie getroffen wurde...

Eine schockierende Geschichte, die die Greuel des Krieges sehr deutlich vor Augen führt, ohne in Morbidität zu schwelgen - es ist im Gegenteil ein deutliches Plädoyer für das Leben. Diese Gratwanderung gelingt Frederic Brake vorzüglich, eine echte schriftstellerische Glanzleistung.


Nina Horvath: Die Duftorgel

Ich-Erzählerin Ieva Giese hat eine Duftorgel zur Kommunikation mit den insektenartigen Bestiolae entwickelt, die sie erstmals im Rahmen einer Rettungsmission nutzt, um einen von den Bessies bedrohten Wissenschaftler zu retten. Das gelingt auch, doch der Kommunikator funktioniert nicht, so daß sie die 120 Kilometer zur Basis zu Fuß bewältigen müssen.

Eine gut und sprachlich gewandt erzählte Geschichte mit schön fieser Schlußpointe, bei der Nina Horvath sich offenbar auch vom teils regelrecht mörderischen Konkurrenzkampf zwischen Wissenschaftlern hat inspirieren lassen. Leider wird dieser Erzählstrang nicht zuendegeführt. Dafür sei noch einmal besonders auf die Schlußpointe hingewiesen, die ist echt gut!


Uwe Post: Träumen Bossgegner von nackten Elfen?

Zauberer Gestern, Elfe Ancör und Zwerg Stramm wollen vor der Pinkelpause, die die Spielerin der Elfe braucht, noch schnell ein kleines Abenteuer im Ganzkörpercomputerrollenspiel Magedawn bestehen, als sich plötzlich das Aussehen ihrer Onlinewelt drastisch ändert und sie im Tomatenbeet einer Mangatusse in Happylife, der fröhlichen Casual-Welt, stehen. Wie echte Helden versuchen sie das Ganze als Queste zu sehen und wollen den Bug im Programm finden und beseitigen...

Eine herrlich postig-satirische Geschichte über Rollenspieler, die völlig in ihrer Ersatzwelt aufgehen. Dabei nimmt Uwe Post gekonnt und zielsicher zahlreiche Klischees und Idiotien der Gegenwartskultur aufs Korn. Mein Favorit ist das Gemetzel an den Kuschelvampiren! *fiesgrins*


Niklas Peinecke: 300 PS intravenös

Torben Falkner leidet unter einer Zwangsneurose und wird beim Joggen schon von einer Werbezikade aus dem Konzept gebracht. Geschäftsmann Ralf Bergdorf bestellt beim Werbeagenten Justin Müller die neueste Werbegeneration: Mücken, die die Werbebotschaft den Opfern im wahrsten Sinne des Wortes einimpfen...

Diese gut erzählte Geschichte fällt wohl in die Kategorie Biopunk. Waren die Spamtauben in Uwe Posts »Symbiose« schon lästig genug, treibt Niklas Peinecke das Ganze hier eine Stufe weiter - frei nach dem Motto »was nicht verboten ist, ist erlaubt«. Dabei greift der Autor geschickt weitere Hirnrissigkeiten unserer Gegenwartswirtschaft wie den Abmahnwahn auf und verpackt das Ganze schön knackig in wenige Seiten Erzählung.


Merlin Thomas: Wunschkind

Markus und Karin Wolfram wollen ein Kind und sind zu Jäger gegangen, um sich die besten Gene aussuchen zu lassen. Karin ist dabei extrem wählerisch und findet in jedem Fall etwas, das ihr nicht paßt...

Eine schön erzählte Geschichte, die aufzeigt, daß zuviel Auswahlmöglichkeit auch beim Thema Kind die weibliche Unzufriedenheit ins Kraut schießen läßt und die männliche Geduld und Geldbörse arg strapaziert. Schön auch die darauf aufbauende Schlußpointe!


Harald Giersche: Die Reise

Ich-Erzähler Hugh Lawyer ist besessen davon, Julie wiederzusehen. Doch sie lebt jetzt auf dem Mars, und es gibt keine Linienraumflüge dorthin...

Erst zum Schluß der Geschichte kann man erahnen, worum es eigentlich geht (die genauen Umstände bleiben dennoch im Dunklen). Ordentlich erzählt, leider bleibt vieles unklar oder wird nur angedeutet. Sprachlich eine deutliche Verbesserung zu den bisherigen Geschichten von Harald Giersche, die ich gelesen habe. Dies ist übrigens eine Bonusgeschichte, beworben wird das Buch nur mit den 14 Geschichten der externen Autoren, sich selbst zählt Verleger und Herausgeber Harald Giersche nicht mit.


Harald Giersche ist mit seinem Verlag Begedia erst seit 2008 auf dem phantastischen Markt aktiv und hatte zuvor 4 Ausgaben »fantastic episodes« verlegt, deren Inhalt größtenteils von ihm selbst bestritten wurde. Nach einer schöpferischen Pause hat er 2011 gleich zwei SF-Anthologien herausgegeben, in denen er kurze (dieses Buch) und lange (»space rocks«) Geschichten namhafter deutschsprachiger Autoren vereint. Liebhaber von Kurzgeschichten sollten Begedia im Auge behalten.

Thema dieser Anthologie sind Prototypen oder erste Personen/Dinge ihrer Art im weitesten Sinne, und daran haben sich fast alle Autoren gehalten (bei Uwe Post geht ums Gegenteil, nämlich Auslaufmodelle). Dabei kommt keineswegs Langeweile auf, da das Thema weit genug gefaßt und die resultierenden Erzählungen daher sowohl thematisch als auch sprachlich sehr unterschiedlich sind. Eine ganze Reihe dieser Geschichten beschäftigt sich gleichzeitig noch mit einem anderen Thema: Wieviel ist ein Menschenleben wert? Die Antworten, wenn denn welche gegeben werden, sind sehr unterschiedlich, doch ich finde allein die Tatsache, daß eine ganze Reihe von Autoren sich ohne Vorgabe auch dieses Themas angenommen haben, bemerkenswert - es handelt sich offenbar um ein Thema, daß zur Zeit viele bewegt.

Fazit: In dieser Anthologie zeigen 15 Autoren, daß auch eher kurze Geschichten großes Potential haben. Einerseits bietet das übergreifende Thema »Prototypen« einen gemeinsamen Denkanstoß, andererseits engt es die Autoren nicht zu sehr ein, dadurch findet sich in diesem Buch eine breitgestreute Mischung interessanter Erzählungen. Empfehlenswert!

Diese Geschichten haben mir besonders gefallen (beste zuerst):


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Erstellt am Dienstag, den 18.10.2011 von Martin Stricker.
Zuletzt geändert am Do, den 24.11.2011 um 08:05.